Johannes
>From Sueddeutsche Zeitung, February 5, 2001
Die Kinder des Markts und Coca-Colas In seinem zweiten Jahrhundert trennt das Kino wieder zwischen E und U / Von Volker Schlöndorff
Betrachten wir die Lage nüchtern, müssen wir zugeben, dass Kino und Film in den letzten Jahrzehnten gewaltige Veränderungen durchgemacht haben.
Die Älteren und Mittelalten erinnern sich noch, wie in den sechzigerer und siebziger Jahren es für das Publikum in ganz Europa eine Selbstverständlichkeit war, den neuesten Film von Bergman (nicht nur "Das Schweigen" oder "Die Jungfrauenquelle", nein auch "Das Siebente Siegel" oder "Die Stunde des Wolfes") zu sehen. Der neueste von Buñuel (und nicht nur der "Diskrete Charme der Bourgeoisie"), der "Leopard" von Visconti wie Fellinis "Dolce Vita" oder "Amarcord", Tony Richardsons "Tom Jones", Milos Formans "Der schwarze Peter", "Außer Atem", "Die Liebenden", "Sie küssten und sie schlugen ihn" - eine beeindruckende und leicht fortzusetzende Liste übrigens -, alle diese Filme fanden in jeder europäischen Stadt ihr Publikum - ob in ihrem Ursprungsland oder weit entfernt.
Solche Filme gibt es heute nicht mehr. Ist das der Grund, warum in jedem Land nur die eigenen nationalen Filme gesehen werden - zusätzlich zu den überall dominierenden amerikanischen Filmen? Könnte man also wieder von einem europäischen Publikum sprechen, einem Publikum mit ziemlich einheitlichen Vorlieben und einer grenzüberschreitenden Begeisterung für Film, wenn es nur wieder solche Filme gäbe?
Oder gibt es solche Filme nicht mehr, weil die Regisseure angesichts der zersplitterten Märkte und des allgemeinen Kleinmuts schon im Vorfeld der Inspiration von den Musen und dem eigenen Mut verlassen werden?
Kann es sein, dass die Angst vor der Globalisierung und die allgemeine ausschließlich auf Materielles orientierte, restaurative Stimmung die Kreativität so klein hält?
Gewiss, es gibt Einzelne, die sich nicht einschüchtern lassen. Almodóvar, Benigni, Lars von Trier. Jedes Jahr gibt es einen Film, den man gesehen haben muss und der es schafft, die Grenze zu überspringen. Doch was ist ein Film pro Jahr, verglichen mit dem Riesenangebot aus Amerika? Genug für die Europäer, könnte man zynisch sagen, denn sie sehen ja im Schnitt nur eineinhalb Filme pro Jahr.
Mal im Ernst, die Zahl stimmt und ist doch ein Witz der Statistik. Richtiger wäre es zu sagen, nur 20 Prozent der Europäer gehen überhaupt ins Kino, die wirklichen Fans ein Mal pro Woche, und die sehen also einen europäischen Film pro Jahr.
Das ist ja noch erschütternder. Lassen wir die Zahlen. Oder eine noch: In den bemühten sechziger/siebziger Jahren sahen wir in jedem Land Europas etwa 20 bis 30 Prozent Filme unserer europäischen Nachbarn, der Rest waren eigene, also nationale oder amerikanische. Heute sehen wir vielleicht noch 3 bis 5 Prozent europäische, 10 Prozent nationale und bis zu 85 Prozent amerikanische Filme.
Das waren jetzt endgültig die letzten Zahlen. Zurück zur empirischen Betrachtung, zurück zu den gelobten sechziger und siebziger Jahren: Großartige Filme gab es damals - aber wie waren die Kinos? Verglichen mit heute kann man sagen: entsetzlich. Unscharfe Vorführung, scheppernder Ton, oft noch Holzstühle, abgewetzte Teppiche auf fußkaltem Beton, verrauchte Tapeten, unfreundliches Personal. Und war der Film aus, stand man im Regen zwischen Mülltonnen auf einem schlecht beleuchteten Hinterhof. Von einigen Premierentheatern abgesehen war das die Regel. Heute ist es umgekehrt. Nicht nur die Multiplexe, auch die Programmkinos bieten gute Technik und einigen Komfort.
Ist das ein Paradox, dass es heute in guten Kinos nicht so gute Filme zu sehen gibt - oder ist da die Verschwörung? Sind Dolby Sensorround, Lucas THX, Breitband und digitale FX-Gestaltung die Feinde des Films? Sicher sind sie die Freunde des großen Abenteuers, der Achterbahnfilme und der urwüchsigen Katastrophen. Fellini und Visconti hätten vielleicht, Buñuel und Bergman sicher nicht damit umgehen wollen. Auch die zitierten Ausnahmeerfolge Almodóvar und Benigni kommen ohne sie aus, die Dogma-Leute haben sie gar mit einem moralisch-ästhetisch-fundamentalistischen Fluch belegt.
Die Kinoleute und wir Filmemacher haben Konsequenzen daraus ziehen müssen, und zwar den Abschied von einem alten Traum, dem Traum aus den stummen Anfängen des Films, nämlich dem Traum, Zuschauer aller Länder und aller Klassen im dunklen Saal zu vereinigen zu einer wunderbaren Masse kollektiven Kinobewusstseins.
Sicher gab es immer schon die Trennung zwischen den großen Häusern und dem Filmkunstghetto, wir alle aber träumten vom Sprung vom einen in das andere, vom Überspringen, vom Cross-over, das auch immer mal gelang. Wolfram Schütte nannte es in der Frankfurter Rundschau den Durchbruch, als die "Katharina Blum" es schaffte, das Publikum in den großen Häusern zu bewegen. Dieses Überspringen war in Europa wie in Amerika der große Traum eines jeden Regisseurs (eines jeden Produzenten sowieso!) - er war nicht nur ein kommerzielles, sondern auch ein politisches ("Alle Menschen werden Brüder") und vor allem ein ästhetisches Ziel: Kino sollte nicht wie Oper und Theater das Gute, Edle, Schöne feiern, sondern das Menschliche im Trivialen finden, es sollte sein wie Zirkus oder noch vermessener: wie das Leben (den Slogan "Kino ist das Leben" gibt's ja noch, wenn auch nicht 24-mal pro Sekunde wie bei Godard).
Aber von diesem Traum müssen wir uns wohl verabschieden. Die oben beschriebene technische Revolution bei der Produktion, wo immer teurere und spektakulärere Effekte immer stärker rollercoaster-artige Filme hervorbringt, und die immer aufwendigere Technik, die für das Vorführen solcher Filme nötig ist, haben zu einer völligen Spaltung des Publikums geführt.
Die einen gehen ins Multiplex, um die Mainstream-Filme zu sehen, die anderen gehen in die Programmkinos (früher "Filmkunsttheater"), um die sogenannten unabhängigen (früher "anspruchsvollen") Filme zu sehen.
In den ersten Jahren hatte man noch die Hoffnung, im Multiplex auch anderes als nur Blockbusters zu spielen, vielleicht sogar ein paar der Säle wie Programmkinos zu führen - aber das Publikum hat dabei nicht mitgemacht. Vor allem bei uns in Europa hat sich das anspruchsvollere Publikum schnell aus den Multiplexen zurückgezogen. Die Leute wollten sich nicht mit der Popcorn-Cola-Bier-Jugend verbrüdern. Dass die umgekehrt sich nicht in ein Programmkino verlaufen, ist bedauerlich, aber eine Tatsache.
Viele Innenstadtkinos, die früher die Filme spielten, die heute die Multiplexe füllen, müssen entweder schließen oder zu Programmkinos werden. Das führt dazu, dass es auf einmal nicht nur zu viel Leinwände bei den Multiplexen gibt, sondern hat auch zwischen den alten und neuen Programmkinos einen harten Wettbewerb bedingt. Hier liegt vielleicht die größte Chance, neues Publikum zu gewinnen, wenn die vormals "großen Innenstadt-Häuser" jetzt ein engagiertes Programm machen, auch andere Generationen ansprechen und ähnlich wie Oper und Konzert sich ein aufgeschlossenes und gebildetes Stammpublikum schaffen.
Was haben wir also heute (und wohl in Zukunft), und was ist so anders als früher? Erstens die deutliche Trennung in zwei Arten Film (das Fatale E und U der Musik): "mainstream" ist der eine, der andere heißt nicht mehr "Kunst" oder "Autorenfilm", auch nicht "anspruchsvoller" oder "independent" - vielleicht nur einfach der "andere" Film.
Zweitens die deutliche Trennung in Multiplexe und Programmkinos. Das muss erläutert werden. Warum sollen die Kinos nicht mal die einen, mal die anderen Filme spielen? Sie würden es ja gerne, aber das Publikum macht nicht mit. Es erwartet ein klares Profil von seinem Kino, nicht eine Woche so, die andere Woche anders.
Will das Programmkino überleben, muss es sich deutlich von den Multiplexen abheben und darf auch nicht gelegentlich auf die großen Erfolgsfilme zurückgreifen. Das zumindest ist zurzeit die gängige Meinung - obwohl es eine Ausnahme gibt, eine einzige, die alles das widerlegt, nämlich das Kino Cinema in der Nymphenburger Straße in München. Hier gab's schon immer Stanley Kubrick neben Sergio Leone, Godard neben Spielberg, Tarantino neben Dogma - irgendwie schafft es da ein Betreiber, dass die unwahrscheinlichste Mischung stimmt. Es ist das bestbesuchte Haus in Deutschland, und wahrscheinlich hat es auch das gesellschaftlich am besten durchmischte Publikum. Aber, wie gesagt, es ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Die Konsequenzen liegen auf der Hand: der Markt liebt solche Segmente, sie schaffen Klarheit in Angebot und Werbung. Die Produktion und der Verleih werden sich danach richten. Auch da ist Amerika uns voraus, indem es seit Jahren zwischen Studio-Filmen und Independents unterscheidet.
In Europa kommt dazu noch die Unterteilung in nationale Filme, die der Seelenhaushalt der Zuschauer wohl als Ausgleich für die Unfassbarkeit der Globalisierung braucht, und die Filme, die weder nationalnoch global, also aus den europäischen Nachbarländern oder sonst woher kommen - und die, statistisch gesehen, nur noch Spurenelemente darstellen.
Zum Schluss die Frage an uns Filmemacher: Wie können wir darauf reagieren? Es ist eine einfache Wahl: entweder man geht den Weg von Wolfgang Petersen und Roland Emmerich - oder man bleibt in Europa und macht spezifische Filme über unsere konkrete gesellschaftliche Realität, wie die Dogma-Leute, wie Mike Leigh, wie die Briten und Schotten, wie Almodóvar über seine Welt, wie Tom Tykwer oder Wong Kar-Wei. Typische Kinofilme, nicht verwechselbar mit den Fernseh-movies-of-the-week, obgleich mit ähnlichem Budget gemacht. - Filme, die persönlich und genau sind.
Mit solchen Filmen können wir uns mit dem Publikum in den Programmkinos einrichten, vielleicht sogar mal den Sprung ins Ausland schaffen und eine zwar begrenzte Zukunft haben, jedoch ohne Angst vor Verschwörungen.