Wir begrüßen die Entscheidung der Stadt Frankfurt, den Theodor W. Adorno-Preis an Judith Butler zu verleihen.
Wie kaum andere hat Judith Butler in den letzten zwei Jahrzehnten wichtige Impulse für kritisches Denken in den Geistes- und Sozialwissenschaften gegeben. Das gilt insbesondere im Blick auf ihre bahnbrechenden Arbeiten zur Geschlechtsidentität, es gilt aber auch hinsichtlich ihrer Texte zur Sprachphilosophie und zur Psychoanalyse, zur politischen Theorie und Ethik. Ihre theoretischen Arbeiten sind durchweg von der Motivation getragen, Unterdrückung und Ausschlussmechanismen zu analysieren und das Bestehende durch Kritik auf
die Möglichkeit eines Besseren zu öffnen. Butler ist es mit ihrem Werk gelungen, zur Inspiration für emanzipatorische Projekte auf der ganzen Welt zu werden. Das liegt auch daran, dass sie das Risiko nicht scheut, über ihre philosophische Arbeit hinaus in öffentliche Diskussionen einzugreifen und zu politischen Fragen Stellung zu beziehen.
Der Adorno-Preis 2012 ehrt in Judith Butler eine der wichtigsten kritischen Denkerinnen unserer Zeit und eine Intellektuelle, die auch den unbequemen Fragen der Gegenwart nicht ausweicht und diese öffentlich
in einer Weise thematisiert, die dazu herausfordert, selbst Position zu
beziehen und sich in den entsprechenden Auseinandersetzungen zu engagieren. Dabei vermag sie auch diejenigen, die ihr nicht in jedem Argument folgen, mit ihrer geistigen Unabhängigkeit, ihrer intellektuellen Aufrichtigkeit und ihrer Leidenschaft für die öffentliche Debatte zu beeindrucken. Dass ihr einige diese Anerkennung nun absprechen wollen, ist nicht hinnehmbar. So verständlich ein generelles Misstrauen gegen Kritik an der Politik Israels vor dem Hintergrund des Umstands sein mag, dass solche Kritik nur zu oft als Deckmantel für antisemitische Positionen dient, so unangemessen ist dieser Verdacht jedoch im Fall von Judith Butler.
So trifft es nicht zu, dass Butler für einen generellen Boykott israelischer Organisationen eingetreten ist. Zur Frage, ob diejenigen spezifischen Boykottmaßnahmen, für die sie eingetreten ist, zu rechtfertigen sind, sind wir unterschiedlicher Meinung. Ihre andere skandalisierte Äußerung ist die Einschätzung, Hisbollah und Hamas seien linke Organisationen, da sie antiimperialistische Politik betrieben. Sie
hat ausdrücklich erklärt, dass dies nicht bedeute, dass sie die Gewalt,
die von diesen Organisationen ausgehe, rechtfertige. Wir meinen zwar, dass Antiimperialismus keine hinreichende Bestimmung linker Politik ist:
im Gegenteil, nur allzu oft ist Antiimperialismus ein Vorwand für reaktionären Traditionalismus und oft auch Antisemitismus. Wir sind aber
der Auffassung, dass Judith Butlers intellektuelle Integrität eine Intensivierung dieser Diskussionen nötig macht, nicht den Diskursabbruch. Wie auch immer man im Einzelnen zu Butlers Position in diesen Fragen stehen mag – die Stadt Frankfurt, die, wie wir finden, mit
guten Gründen den Adorno-Preis an Judith Butler verleiht, hat, wie die Öffentlichkeit, die dieser Preis adressiert, eine differenzierte Debatte
verdient, nicht eine Grenzziehung.
Wir widersprechen der Delegitimierung einer Philosophin, von der außer Frage steht, dass sie einer Kultur der Gewaltlosigkeit und der kommunikativen Verständigung verpflichtet ist.
Erstunterzeichner/innen: Dario Azzellini (Linz), Seyla Benhabib (New Haven), Sidonia Blättler (Frankfurt), Micha Brumlik (Frankfurt), Hauke Brunkhorst (Flensburg), Sonja Buckel (Frankfurt), Robin Celikates (Amsterdam), Carolyn Christov-Bakargiev (Kassel/Rom), Alex Demirovic (Berlin/Frankfurt), Diedrich Diederichsen (Berlin/Wien), Heinz Drügh (Frankfurt), Carolin Emcke (Berlin), Antke Engel (Berlin), Nancy Fraser (New York), Lydia Goehr (New York), Stefan Gosepath (Berlin), Isabelle Graw (Frankfurt), Werner Hamacher (Frankfurt), Sabine Hark (Berlin), Vinzenz Hediger (Frankfurt), Nikolaus Hirsch (Frankfurt), Bonnie Honig (Chicago/Evanston), Rahel Jaeggi (Berlin), Martin Jay (Berkeley), Ina Kerner (Berlin), Gertrud Koch (Berlin), Thomas Lemke (Frankfurt), Daniel
Loick (Frankfurt), Isabell Lorey (Berlin/Wien), Andrea Maihofer (Basel), Ethel Matala de Mazza (Berlin), Christoph Menke (Frankfurt), Nikolaus Müller-Schöll (Frankfurt), Frederick Neuhouser (New York), Ilona Pache (Berlin), Juliane Rebentisch (Berlin/Offenbach), Eva von Redecker (Berlin), Oliver Reese (Frankfurt), Margit Rodrian-Pfennig (Frankfurt), Martin Saar (Frankfurt/Berlin), Tatjana Schönwälder-Kuntze (München/Frankfurt/Berkeley), Gunther Teubner (Frankfurt), Holger Kube Ventura (Frankfurt), Paula-Irene Villa (München), Albrecht Wellmer (Berlin), Jens Wissel (Frankfurt), Idith Zertal (Tel Aviv/Basel).