Zizek in Zeit

Doug Henwood dhenwood at panix.com
Mon Jun 28 10:26:32 PDT 1999


[Thanks to Anita Mage]

http://www.ZEIT.de/tag/aktuell/199926.zizekii._.html Nr. 26/1999

Die Nato - die linke Hand Gottes?

Über die Selbsttäuschung des Westens oder: Warum der Konflikt auf dem Balkan so bald kein Ende finden wird Von Slavoj Zizek

Die Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato ist vorbei. Es ist daher an der Zeit zu fragen, welche Bedeutung dieser Krieg hinsichtlich seiner ideologisch-politischen Folgen hat. Unlängst meinte Václav Havel in einem Essay (Das Kosovo und das Ende des Nationalstaates), die Bombardierung Jugoslawiens, für die es kein UN-Mandat gab, habe "die Menschenrechte über die Rechte des Staates gestellt. (...) Dies geschah jedoch nicht in unverantwortlicher Weise, als aggressiver Akt oder in Missachtung des internationalen Rechts. Im Gegenteil. Es geschah aus Achtung vor dem Recht, einem Recht, das höher steht als jenes, das die Souveränität der Staaten schützt. Die Allianz hat aus der Achtung vor den Menschenrechten gehandelt, wie es sowohl das Gewissen als auch internationale Rechtsdokumente gebieten." Dieses "höhere Recht" habe seine "tiefsten Wurzeln außerhalb der wahrnehmbaren Welt". "Während der Staat ein Werk des Menschen ist, ist der Mensch ein Werk Gottes." Anders gesagt: Die Nato durfte internationales Recht verletzen, weil sie als unmittelbares Werkzeug des "höheren Rechts" Gottes handelte. Wenn das kein "religiöser Fundamentalismus" ist, dann entbehrt dieser Begriff jeder Bedeutung.

Havels Äußerung bestätigt, was Ulrich Beck im April 1999 in der Süddeutschen Zeitung einen "militaristischen Humanismus" beziehungsweise einen "militaristischen Pazifismus" genannt hat. Das Problem ist weniger, dass es sich dabei um Orwellsche Oxymora ("Frieden ist Krieg") handelt (meiner Ansicht nach ist der pazifistische Standpunkt ein Schwindel; man sollte sich ein Herz fassen und das Paradox des militaristischen Pazifismus gutheißen). Problematisch ist auch nicht, dass die Ziele der Bombardierung nicht aus rein moralischen Erwägungen ausgewählt wurden. Das Problem ist vielmehr, dass eine rein humanitäre, rein ethische Rechtfertigung die Nato-Intervention gründlich entpolitisiert hat. Die Nato scheute nämlich eine genau definierte politische Auseinandersetzung; ihre Intervention wurde allein mit den entpolitisierten allgemeinen Menschenrechten gerechtfertigt und verbrämt. Darin erscheinen die Menschen nicht mehr als politisches Subjekt, sondern als hilfloses Opfer, aller politischen Identität beraubt und auf ihr bloßes Leiden reduziert. Meiner Auffassung nach handelt es sich bei diesem idealen Subjekt-Opfer um ein ideologisches Konstrukt der Nato.

Nicht nur die Nato, auch der linke Nostalgiker verkennt die Kriegsursache

Heute sieht man, dass das Paradox der Bombardierung Jugoslawiens nicht das war, worüber westliche Pazifisten klagen (die Nato habe jene ethnische Säuberung erst ausgelöst, die sie verhindern wollte). Nein, die Ideologie der Veropferung war das eigentliche Problem: Es ist in Ordnung, den hilflosen Albanern gegen die serbischen Ungeheuer zu helfen, keinesfalls aber darf man ihnen gestatten, diese Hilflosigkeit abzuwerfen, indem sie sich als souveränes und selbstständiges politisches Subjekt begreifen - ein Subjekt, das die gütige Obhut des Nato-"Protektorats" nicht nötig hat und weiterhin Opfer bleibt. Die Strategie der Nato war daher pervers im präzisen Freudschen Sinn des Wortes: Das zu beschützende Andere ist gut insofern, als es Opfer bleibt.

Doch nicht nur die Nato hat den Konflikt entpolitisiert, auch ihre Opponenten in pseudolinken Kreisen haben es getan. Für sie stellten die Bombardements den letzten Akt in der Auflösung des Titoschen Jugoslawiens dar - das Ende einer Verheißung, den Untergang der Utopie vom multiethnischen und authentischen Sozialismus in den Wirren eines ethnischen Krieges. Selbst ein so scharfsinniger politischer Philosoph wie Alain Badiou beharrt darauf, dass alle Seiten gleich schuldig seien. Überall gebe es auf ihrem jeweiligen Gebiet "ethnische Säuberer" - bei den Serben, Slowenen und den Bosniern. "Der serbische Nationalismus ist wertlos. Aber worin ist er schlimmer als die anderen? Er ist breiter, ausgedehnter, verfügt über mehr Waffen und in der Vergangenheit zweifellos über mehr Möglichkeiten, seine kriminellen Leidenschaften auszuagieren. (...) Gewiß, Milocevic ist ein brutaler Nationalist, ebenso wie alle seine Kollegen aus Kroatien, Bosnien oder Albanien. (...) Vom Beginn des Konflikts an hat der Westen sich nur auf die Seite des schwachen (bosnischen, kosovarischen) Nationalismus geschlagen und sich gegen den starken (serbischen oder, mit Abstrichen, kroatischen) Nationalismus gestellt."

Mir scheint, dies ist eine linke Sehnsucht nach dem verlorenen Jugoslawien. Die große Ironie liegt darin, dass diese Nostalgie das Serbien des Slobodan Milocevic für den Nachfolger des alten Traums hält - also ausgerechnet jene Kraft, die das alte Jugoslawien so wirkungsvoll getötet hat. Dabei war das einzige politische Gebilde, das für das positive Erbe des Titoschen Jugoslawiens stand, für seine vielgepriesene multikulturelle Toleranz, das "muslimische" Bosnien, ja man könnte sogar sagen: Die serbische Aggression gegen Bosnien richtete sich auch gegen diejenigen, die sich verzweifelt an Titos Erbe klammerten, an die Idee einer ethnischen "Brüderlichkeit und Einheit". Kein Wunder, dass der überragende Kommandant der "muslimischen" Armee General Rasim Delic war, ein ethnischer Serbe; kein Wunder, dass die ganzen neunziger Jahre hindurch das "muslimische" Bosnien der einzige Teil des ehemaligen Jugoslawiens war, in dessen Amtsstuben noch immer das Porträt Titos hing.

Bedrängt durch den serbischen Nationalismus, bewahrten sich sogar slowenische und kroatische Nationalisten einen Respekt vor Titos Jugoslawien, jedenfalls vor seinem Grundprinzip, dem föderativen Bund aus gleichen Teilstaaten mit voller Souveränität, einschließlich des Rechts der Abspaltung. Wer das übersieht, wer den Konflikt um Bosnien auf einen Bürgerkrieg zwischen verschiedenen "ethnischen Gruppen" reduziert, der schlägt sich von vornherein auf die serbische Seite. Denn keineswegs war der Unterschied zwischen Milocevic und anderen nationalen Führern nur ein quantitativer. Nein, Jugoslawien war kein frei schwebendes Gebilde, das von allen nationalistischen "Sezessionisten" gleichermaßen verraten wurde. Seine Auflösung war vielmehr ein dialektischer Prozess. Diejenigen, die von Jugoslawien "abfielen", haben auf die serbischen Nationalisten reagiert - also auf die Machtgruppen, die danach trachteten, das Erbe Titos zu liquidieren. So standen gerade die schlimmsten antiserbischen Nationalisten dem Erbe Titos näher als das gegenwärtige Belgrader Regime, das sich gegenüber all den "Sezessionisten" als legitimer und legaler Nachfolger des alten Jugoslawiens geriert.

Allein die serbische Aggression, nicht ein ethnischer Konflikt löste den Krieg aus

Bei allem darf man eines nicht vergessen: Tito hat die Föderation in bewusstem Gegensatz zu jenem Vorkriegsjugoslawien errichtet, das auf der Hegemonie der Serben, der "Einheitsstifter", beruhte. Die Serben waren damals die einzige staatsbildende Nation. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte Tito diesem serbisch dominierten Jugoslawien ein föderales Jugoslawien entgegensetzen, einen freien Bund aus gleichen und souveränen Ländern, die sogar das Recht auf Abspaltung haben sollten. Milocevics Machtergreifung war dagegen der Versuch, das alte Vorkriegsjugoslawien und damit die serbische Hegemonie wiederzuerrichten. Auf dieses bedrohliche Restaurationsstreben haben dann alle "Sezessionisten" reagiert, wobei ihre Forderungen ausdrücklich in den Prinzipien von Titos Jugoslawien verankert waren.

Wie man es auch dreht und wendet: Das ganze modische linke Gerede vom Ustaca-Erbe in Tudjmans Kroatien et cetera ändert nicht das Geringste daran, dass die serbische Aggression gegen Bosnien im Jahr 1992 nicht einem Konflikt zwischen ethnischen Gruppen entsprang. Es war einzig und allein die Aggression des serbisch dominierten Vorkriegsjugoslawiens gegen das Nachkriegsjugoslawien Titos.

Rückblickend muss man sagen, dass bei den Debatten über die Nato-Bombardierung beide Seiten Unrecht hatten. Nicht, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt. Im Gegenteil, beide Seiten - die Befürworter des Nato-Bombardements ebenso wie seine Gegner - hatten Unrecht. Beide versuchten nämlich, einen falschen, allgemein-neutralen Standpunkt einzunehmen. Die Befürworter des Nato-Bombardements beriefen sich auf entpolitisierte Menschenrechte; ihre Gegner stellten den postjugoslawischen Krieg als ethnischen Kampf dar, in dem alle Seiten gleichermaßen schuldig wurden. Dadurch verkannten beide Seiten das eminent politische Wesen des postjugoslawischen Konflikts. Auch deswegen wird der Konflikt weiter unter seiner Asche schwelen. Der erzwungene Nato-Frieden hat ihn zwar vorübergehend eingedämmt, doch nicht auf immer gelöscht.

Der slowenische Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Zizek lehrt in Ljubljana

Deutsch von Eike Schönfeld



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