Vernetzte Rätemacht? Eine Tagung der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal

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Thu Jun 21 21:04:20 PDT 2001


Artikel http://www.jungewelt.de/2001/06-19/017.shtml

19.06.2001

Vernetzte Rätemacht? Eine Tagung der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal

Ist Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Internet? Rund 20 Interessierte hatten sich zusammengefunden, um am Sonnabend in der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal über die Ausführungen von vier Referenten zum Thema »Neue Technik - neue Gesellschaft?« zu diskutieren. Die Standpunkte waren relativ rasch umgrenzt, die Debatte entsprechend intensiv. Für die einen ergibt sich aus den neusten Entwicklungen der technischen Produktivkräfte die Notwendigkeit des Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsformation. Die Opponenten leugneten zwar nicht die gewaltigen Veränderungen insbesondere bei Informations- und Kommunikationstechniken, die auf eine Veränderung der Produktionsverhältnisse drängen, äußerten aber Skepsis in bezug auf die unmittelbar revolutionäre Wirkung dieser Vorgänge.

Zum Auftakt untersuchte Helmut Dunkhase (Berlin) den Platz des Computers im Produktivkraftsystem und wandte sich dann den Problemen zu, »die der Kapitalismus mit dem Computer hat« sowie jenen, »die der Sozialismus ohne Computer hatte und die jetzt gelöst werden können«. Als spezifische Charakteristika für den Computer nannte Dunkhase: Automatisierung geistiger Funktionen, Universalität der Einsatzmöglichkeiten, Integration von Arbeitsteilung, Koordinationsleistungen unabhängig von Entfernungen, die Möglichkeit, eine »fraktale« Fabrik einzurichten, d. h. die Güter dezentral zu produzieren. Die Dezentralisierung, so Dunkhase, sei auch das Problem des Imperialismus mit dieser neuen Technik. Auf der anderen Seite habe der Sozialismus etwa in der DDR unter Ulbricht in Planung und Kybernetik ein unerreichtes Niveau gehabt, ohne die adäquaten technischen Mittel zur Verfügung gehabt zu haben. Dunkhase zitierte einen US-Experten, der äußerte: »Das Neue Ökonomische System mit rechentechnischer Basis, Marxismus plus Mathematik sind der Untergang der USA.« Dunkhase vertrat die Auffassung, daß zentralistische Planungssysteme überholt sind und eine neue Selbstorganisation in den Mittelpunkt rücke: Der Computer sei unumgänglich für die Befreiung von der Warenform, er sorge zugleich für die ständige Präsenz des »general intellect« in Gestalt von »vernetzten Räten«. Wolf Göhring (Bonn) und Stefan Meretz (Dortmund) unterstützten mit ihren Beiträgen im wesentlichen diesen Ansatz. Göhring, der seit mehr als 40 Jahren in einem führenden Forschungsinstitut für Datenverarbeitung tätig ist, stellte sein Konzept einer »produktiven Informationsgesellschaft« vor. Meretz vertrat die These, daß mit der derzeitigen Entwicklung der Mensch zum erstenmal »Hauptproduktivkraft« sein könne. Nach seiner Auffassung hat die klassische Arbeiterbewegung durch Reduktion der Vergesellschaftung auf die Eigentumsfrage die Probleme der neuen Gesellschaft vereinseitigt. An Stelle »abstrakt entfremdeter Herrschaftsformen« wie im Kapitalismus sei durch Computer und Internet eine »herrschaftsfreie personal-konkrete Vermittlung« gesellschaftlicher Regulierung möglich geworden. Als eine Keimform dessen sei die »Free-Software-Bewegung« zu begreifen, die mit der kostenlosen Verbreitung von Software die Verknappung eines Gutes beende, keine zentrale Steuerung habe, aber global und stabil wirksam sei.

Skepsis gegen vorschnelle Ableitungen aus der Produktivkraftentwicklung äußerte Werner Seppmann in seinem Referat. Er hob vor allem hervor, daß die Widersprüche des Kapitalismus auf einer neuen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung erfahren werden. Die fraktale Fabrik sei kein Vorschein des Sozialismus, sondern Ausdruck kapitalistischen Konkurrenzverhaltens. Hinter der Fassade erhöhter Selbständigkeit regiere auch eine völlig neue Qualität der Kontrolle. In Anlehnung an den Satz von Marx, jeder Baumeister übertreffe jede Biene, da er Baupläne im Kopf entwerfe, konstatierte Seppmann: »Der Computer hat keine antizipatorischen Fähigkeiten«. Wer aus der Computerisierung unmittelbar Emanzipation erwarte, sei auf dem Holzweg.

So klar die gegensätzlichen Auffassungen damit am Ende dieses Tages erkennbar wurden, so sehr drängen sie auf eine neuerliche Diskussion des Themas.

Arnold Schölzel



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